Dr.
Alexander Bissels und Dr. Jonas Singraven
Bestimmung
der tariflichen Belastungsgrenze bei Mehrarbeitszuschlägen unter
Berücksichtigung von Urlaubsstunden
Wird
eine tarifliche Belastungsgrenze für eine Zuschlagspflicht bei
Mehrarbeit nur unter Berücksichtigung der aktiv geleisteten
Stunden festgelegt oder sind in diesem Zusammenhang auch inaktive
Zeiten bei gleichzeitiger Fortzahlung der Vergütung während des
Urlaubs zugunsten des Arbeitnehmers zu beachten? Mit dieser Frage
musste sich das BAG im Anwendungsbereich des MTV iGZ/DGB auf
Grundlage der Vorgaben des EuGH befassen (Urt. v. 13.01.2022 –
C-514/20), dem der 10. Senat den Rechtsstreit vorab vorgelegt hat
(Urt. v. 16.11.2022 – 10 AZR 210/19).
I.
Zusammenfassung der Entscheidung
Der
klagende Zeitarbeitnehmer war bei dem Personaldienstleister in
Vollzeit mit einem Stundenlohn i.H.v. 12,18 EUR brutto
beschäftigt. Für das Arbeitsverhältnis galt aufgrund einer
beiderseitigen Tarifbindung der MTV iGZ/DGB
§
4 MTV iGZ/DGB sieht wörtlich folgende Regelung vor:
4.1.1. Mehrarbeit ist die über die regelmäßige monatliche
Arbeitszeit hinausgehende Arbeitszeit.
4.1.2.
Mehrarbeitszuschläge werden für Zeiten gezahlt, die in Monaten
mit
- 20 Arbeitstagen über 160 geleistete Stunden
- 21 Arbeitstagen über 168 geleistete Stunden
- 22 Arbeitstagen über 176 geleistete Stunden
- 23 Arbeitstagen über 184 geleistete Stunden
hinausgehen.
Der Mehrarbeitszuschlag beträgt 25 Prozent.
Im
Monat August 2017 (mit 23 Arbeitstagen) arbeitete der Kläger
121,75 Stunden und nahm zehn Tage Erholungsurlaub, für die die
Beklagte 84,7 Stunden abrechnete und vergütete.
Die
Revision des Klägers gegen die klageabweisenden Urteile der
Instanzgerichte hatte überwiegend Erfolg. Dieser hat nach den
höchstrichterlichen Feststellungen einen Anspruch auf die Zahlung
von tariflichen Mehrarbeitszuschlägen für den Monat August 2017.
Nach
§ 4.1.2. MTV iGZ/DGB seien – so das BAG –
Mehrarbeitszuschläge für Zeiten zu zahlen, die über eine
bestimmte Anzahl geleisteter Stunden hinausgingen. Die
tarifvertragliche Regelung sei so zu verstehen, dass nicht nur die
tatsächlich geleisteten Stunden bei der Berechnung von
Mehrarbeitszuschlägen, sondern auch zu vergütende Urlaubsstunden
zu berücksichtigen seien. Dies ergebe sich aus einer Auslegung
der Tarifnorm in Übereinstimmung mit § 1 BUrlG in seinem
unionsrechtskonformen Verständnis.
Ausgehend
vom Wortlaut von § 4.1.2. MTV iGZ/DGB seien unter „geleistete
Stunden“ nach dem allgemeinen Sprachgebrauch Stunden zu
verstehen, in denen eine tatsächliche Arbeitsleistung erbracht
werde. Urlaubszeiten, in denen nicht gearbeitet werde, seien
dagegen nicht vom Wortsinn erfasst. Allerdings sei der Wortlaut
nicht eindeutig, insoweit nicht abschließend zu verstehen und der
Begriff „geleistete Stunden“ von den Tarifvertragsparteien
nicht selbst definiert. Unter diesen könnten vielmehr ebenfalls
Stunden fallen, die ein Arbeitnehmer wegen Urlaubs vergütet
erhalte. Der tatsächlichen Erbringung der Arbeitsleistung könne
es gleichstehen, wenn die Leistung von Stunden nur deshalb nicht
erfolge, weil der Arbeitnehmer unter Fortzahlung seines Entgelts
wegen Urlaubs von der Erbringung der Arbeitsleistung freigestellt
werde. Zwar deuteten Sinn und Zweck der tariflichen Bestimmung und
deren Gesamtzusammenhang darauf hin, dass nur tatsächlich
geleistete Stunden bei der Berechnung der Mehrarbeitszuschläge
berücksichtigt werden sollten. Ausgeschlossen sei ein anderes
Verständnis aber auch danach nicht.
Nur
eine Auslegung der Tarifnorm, nach der genommene Urlaubsstunden
als „geleistete Stunden“ nach § 4.1.2. MTV iGZ/DGB
mitzählten, sei nach der Ansicht des BAG im Hinblick auf § 1
BUrlG gesetzeskonform. Bestimmte Anreize, auf den gesetzlichen
Mindesturlaub zu verzichten, könnten gegen § 1 BUrlG verstoßen.
Arbeitnehmer dürften nicht aus wirtschaftlichen Erwägungen davon
abgehalten werden, ihren Anspruch auf Erholungsurlaub geltend zu
machen. Ein mit § 1 BUrlG nicht zu vereinbarender Anreiz, auf
Urlaub zu verzichten, könne nach nationalem Recht in
Tarifverträgen nicht wirksam vereinbart werden. Die
Öffnungsklausel gem. § 13 Abs. 1 S. 1 BUrlG, nach der in
Tarifverträgen grundsätzlich von den Vorschriften des BUrlG
abgewichen werden könne, gelte nicht für § 1 BUrlG.
Diese
Bestimmung sei ihrerseits unionsrechtskonform nach Art. 31 Abs. 2
GRC, Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG (nachfolgend: RiLi)
auszulegen. Der EuGH habe insoweit festgestellt, dass Art. 7 RiLi
im Licht von Art. 31 Abs. 2 GRC so zu interpretieren sei, dass er
einer Regelung in einem Tarifvertrag entgegenstehe, nach der für
die Berechnung, ob die Schwelle der zu einem Mehrarbeitszuschlag
berechtigenden Arbeitszeit erreicht sei, die Stunden, die dem vom
Arbeitnehmer in Anspruch genommenen bezahlten Jahresurlaub
entsprächen, nicht als geleistete Arbeitsstunden berücksichtigt
würden. Das Recht auf bezahlten Jahresurlaub sei als ein
besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der EU –
verbürgt in Art. 31 Abs. 2 GRC – anzusehen, von dem nicht
abgewichen werden dürfe. Die Schaffung eines Anreizes, auf den
Erholungsurlaub zu verzichten, sei mit den Zielen von Art. 7 RiLi
unvereinbar. Das gelte für jede Praxis eines Arbeitgebers, die
den Arbeitnehmer davon abhalten könne, den Jahresurlaub zu
nehmen. Der in § 4.1.2. MTV iGZ/DGB angelegte Mechanismus zur
Anrechnung von Arbeitsstunden, die für das Überschreiten einer
bestimmten Schwelle, ab der Mehrarbeitszuschläge geschuldet
würden, zu berücksichtigen seien, sei allerdings geeignet, den
Arbeitnehmer davon abzuhalten, Urlaub zu nehmen. In dem Monat, in
dem er Urlaub nehme, könne ein Mehrarbeitszuschlag trotz
geleisteter Überstunden deshalb entfallen, weil die
Urlaubsstunden bei der Berechnung des Schwellenwerts nicht
beachtet würden. Ein solcher Mechanismus sei nicht mit dem in
Art. 7 Abs. 1 RiLi vorgesehenen Anspruch auf bezahlten
Jahresurlaub vereinbar.
Nach
diesen Vorgaben sei § 4.1.2. MTV iGZ/DGB gesetzeskonform in
Übereinstimmung mit § 1 BUrlG in seinem unionsrechtskonformen
Verständnis dahingehend auszulegen, dass genommene und zu
vergütende Urlaubsstunden bei der Berechnung der
Mehrarbeitszuschläge zu beachten seien. In diesem Verständnis
weiche § 4.1.2. MTV iGZ/DGB nicht von den für den gesetzlichen
Mindesturlaub gegebenen Vorgaben in § 1 BUrlG in seiner
richtlinienkonformen Auslegung ab. Eine andere Auslegung würde
dazu führen, dass ein Mechanismus gegeben wäre, den Arbeitnehmer
davon abzuhalten, seinen Jahresurlaub zu nehmen, und somit ein
unzulässiger finanzieller Anreiz bestünde, auf den
(gesetzlichen) Mindesturlaub zu verzichten. Dies wäre immer dann
der Fall, wenn ein Arbeitnehmer während eines Kalendermonats
Mehrarbeit im Tarifsinn leiste und im selben Monat Urlaub nehme.
Mehrarbeitszuschläge könnten sich verringern oder vollständig
entfallen, weil der maßgebende Schwellenwert für
Mehrarbeitszuschläge in geringerem Umfang oder gar nicht mehr
überschritten würde. In Anspruch genommener Urlaub könnte in
Bezug auf tarifvertragliche Mehrarbeitszuschläge mit einem
finanziellen Nachteil einhergehen, wenn mehr als 40 Stunden pro
Woche gearbeitet worden seien und bei Weiterarbeit statt Urlaubs
die jeweils maßgebliche Berechnungsschwelle überschritten
würde. Im Fall des Klägers würde ein solches Verständnis von
§ 4.1.2. MTV iGZ/DGB dazu führen, dass Mehrarbeitszuschläge
für August 2017 nicht zu zahlen gewesen wären. Ohne
Berücksichtigung der bezahlten Urlaubsstunden hätte der Kläger
die maßgebliche Schwelle nämlich nicht überschritten.
Im
Monat August 2017 habe der Kläger 121,75 Stunden Arbeitsleistung
und 84,7 Stunden Urlaub vergütet erhalten (insgesamt: 206,45
Stunden). Der Monat habe 23 Arbeitstage, so dass
Mehrarbeitszuschläge für die über 184 Stunden hinausgehenden
Zeiten i.H.v. 68,36 EUR brutto zu zahlen seien (22,45 Stunden x
12,18 EUR x 25 %). Soweit der Kläger weitere 3,96 Euro brutto
geltend mache, fehle es hingegen an einer Anspruchsgrundlage.
II.
Bewertung
Das
Urteil des BAG ist nach der Entscheidung des EuGH wenig
überraschend; der Ausgang des Verfahrens in dem oben
beschriebenen Sinne war zu erwarten. Das BAG setzt die Vorgaben
des EuGH konsequent um, wenngleich es schon einiger juristischer
"Klimmzüge" bedurfte, um den u.E. doch sehr eindeutigen
Wortlaut von § 4.1.2. MTV iGZ/DGB ("geleistete
Stunden") im Rahmen der Auslegung – entgegen der
Vorinstanzen (vgl. ArbG Dortmund v. 14.02.2018 – 10 Ca 4180/17;
LAG Hamm v. 14.12.2018 – 13 Sa 589/18; dazu: Bissels/Falter,
jurisPR-ArbR 33/2019 Anm. 3) – so zu verstehen, dass unter die
Regelung auch bezahlte Urlaubszeiten zu fassen sein sollen
(ebenfalls kritisch: Fuhlrott, GWR 2023, 76; Bauer, ArbR 2022,
(...)
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