Dr.
Alexander Bissels, Dr. Michael Rein und Dr. Philipp Deuchler
Verfall
und Verjährung von Urlaubsansprüchen bei unterlassenen
Mitwirkungsobliegenheiten des Arbeitgebers
In
zwei Grundsatzentscheidungen hat das BAG am 20.12.2022 das
nationale Urlaubsrecht weiter den europäischen Vorgaben
angepasst. Die Praxisrelevanz ist enorm.
Das
Urlaubsrecht ist einer der Bereiche des Arbeitsrechts, die in den
letzten Jahren den größten Veränderungen unterworfen waren.
Maßgeblich beruhte dies auf Urteilen des EuGH. Mit seiner
Entscheidung im Jahr 2018 legte der EuGH die Arbeitszeitrichtlinie
(RL 2003/88/EG) dahingehend aus, dass Arbeitgeber u.a.
verpflichtet sind, konkret und in völliger Transparenz dafür zu
sorgen, dass ihre Arbeitnehmer tatsächlich in der Lage sind,
ihren bezahlten Jahresurlaub zu nehmen. Sie haben Arbeitnehmer
dazu aufzufordern – erforderlichenfalls förmlich –, dies zu
tun, und ihnen klar und rechtzeitig mitzuteilen, dass der Urlaub,
wenn sie ihn nicht nehmen, am Ende des Bezugs- oder eines
zulässigen Übertragungszeitraums verfallen wird (sog.
Mitwirkungsobliegenheit). Damit hat der EuGH dem deutschen
Urlaubsrecht eine neue Prägung hinzugefügt.
Insbesondere
die gesetzlichen Regelungen zum Verfall von Urlaubsansprüchen
müssen seitdem im Lichte dieser Rechtsprechung
unionsrechtskonform interpretiert werden. Nach der Judikatur des
BAG können in einem Kalenderjahr entstandene Urlaubsansprüche
daher nach Maßgabe des § 7 Abs. 3 BUrlG grundsätzlich nur
verfallen, wenn der Arbeitgeber zuvor seine
Mitwirkungsobliegenheit erfüllt hat. Hierzu muss er den
Arbeitnehmer i.S.d. EuGH unterrichten und ihn damit in die Lage
versetzen, seinen Urlaubsanspruch zu nehmen. Nimmt der
Arbeitnehmer dann seinen Urlaub gleichwohl nicht, kann der Urlaub
weiterhin verfallen (vgl. BAG v. 07.07.2020 – 9 AZR 401/19 A).
Wichtig ist dabei, dass diese Rechtsprechung grundsätzlich nur
für den gesetzlichen Mindesturlaub gilt. Für tarif- oder
individualvertraglichen Zusatzurlaub sind abweichende Regelungen
(auch zum Verfall) weiterhin möglich; für Personaldienstleister
ist jedoch zu beachten, dass für den Zeitarbeitnehmer in einem
Arbeitsvertrag vereinbarte nachteilige Abweichungen von den
tariflichen Urlaubsregelungen zur Folge haben, dass der
Gleichstellungsgrundsatz nicht wirksam abbedungen worden ist. In
diesem Zusammenhang ist also besondere Vorsicht und Augenmaß
geboten. Die folgenden Erläuterungen gelten vor diesem
Hintergrund in erster Linie für den gesetzlichen Mindesturlaub.
I. Verfall von Urlaub bei Arbeitsunfähigkeit und unterbliebener
Mitwirkungsobliegenheit
Besonderheiten
gelten dabei, wenn der Arbeitnehmer aus gesundheitlichen Gründen
nicht in der Lage war, seinen Urlaub im Urlaubsjahr oder innerhalb
des gesetzlichen Übertragungszeitraums bis zum 31. März des
Folgejahres (§ 7 Abs. 3 S. 3 BUrlG) zu nehmen. Für diese Fälle
hat das BAG entschieden, dass der gesetzliche Urlaubsanspruch
eines seit Beginn oder im Verlauf des Urlaubsjahres
arbeitsunfähig erkrankten Arbeitnehmers bei ununterbrochen
fortbestehender Arbeitsunfähigkeit 15 Monate nach Ablauf des
Urlaubsjahres verfällt (vgl. BAG v. 07.08.2012 – 9 AZR
353/10).
Bislang
war allerdings ungeklärt, ob und inwieweit diese Rechtsprechung
auch Anwendung finden kann, wenn der Arbeitgeber seinen
Mitwirkungsobliegenheiten nicht nachgekommen ist. Denn – wie
dargestellt – verfallen Urlaubsansprüche im Grundsatz nur, wenn
der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zuvor durch Erfüllung seiner
Mitwirkungsobliegenheiten in die Lage versetzt hat, seinen
Urlaubsanspruch wahrzunehmen, und der Arbeitnehmer den Urlaub
dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat.
Für
Fälle, in denen der Arbeitnehmer durchgehend arbeitsunfähig
krank war und deshalb – unabhängig davon, ob der Arbeitgeber
seine Mitwirkungsobliegenheiten erfüllt hat – überhaupt keinen
Urlaub nehmen konnte, bleibt es nach dem BAG (richtigerweise)
dabei, dass der Urlaubsanspruch 15 Monate nach Ablauf des
Urlaubsjahres verfällt. Das BAG begründet dies damit, dass in
diesem Fall nicht die Handlungen oder Unterlassungen des
Arbeitgebers, sondern allein die Arbeitsunfähigkeit des
Arbeitnehmers für den Verfall des Urlaubs ursächlich ist (vgl.
BAG v. 07.07.2020 – 9 AZR 401/19 A).
Offen
war aber noch, wie es sich verhält, wenn der betreffende
Arbeitnehmer in dem Urlaubsjahr tatsächlich gearbeitet hat, bevor
es ihm gesundheitsbedingt, z.B. infolge krankheitsbedingter
Arbeitsunfähigkeit oder voller Erwerbsminderung, unmöglich
wurde, seinen Urlaub zu nehmen, und der Arbeitgeber seinen
Mitwirkungsobliegenheiten nicht nachgekommen ist.
II.
BAG: Verfall des Urlaubsanspruchs bei tatsächlicher
Arbeitsleistung im Urlaubsjahr nur bei Erfüllung der
Mitwirkungsobliegenheiten durch den Arbeitgeber
In
einem seit dem Jahr 2019 vor dem BAG anhängigen Verfahren machte
der Kläger, der vom 01.12.2014 bis mindestens August 2019 wegen
voller Erwerbsminderung aus gesundheitlichen Gründen nicht
arbeiten und deshalb auch seinen Urlaub nicht nehmen konnte,
geltend, ihm stehe noch Resturlaub aus dem Jahr 2014 zu. Dieser
sei nicht verfallen, weil die beklagte Arbeitgeberin ihren
Obliegenheiten, an der Gewährung und Inanspruchnahme von Urlaub
mitzuwirken, nicht nachgekommen sei.
Das
BAG setzte das Verfahren aus und legte die Rechtsfrage dem EuGH im
Jahr 2020 vor. Im September 2022 beantwortete der EuGH die
Vorlagefrage dahingehend, dass ein Verfall von Urlaubsansprüchen
nach 15 Monaten nach Ablauf des Urlaubsjahres nicht in Betracht
kommt, wenn der Arbeitnehmer in dem betreffenden Urlaubsjahr
tatsächlich gearbeitet hat, bevor er voll erwerbsgemindert oder
krankheitsbedingt arbeitsunfähig wurde, und der Arbeitgeber
seinen Mitwirkungsobliegenheiten nicht nachgekommen ist (vgl. EuGH
v. 22.09.2022 – C-518/20, C-727/20).
Das
BAG entschied nunmehr in Umsetzung des Urteils des EuGH, dass der
Verfall des Urlaubsanspruchs nach § 7 Abs. 3 BUrlG regelmäßig
voraussetze, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer rechtzeitig vor
Eintritt der Arbeitsunfähigkeit in die Lage versetzt habe, seinen
Urlaub auch tatsächlich zu nehmen (BAG v. 20.12.2022 – 9 AZR
245/19). Der für das Jahr 2014 noch nicht erfüllte
Urlaubsanspruch des Klägers sei nicht allein deshalb mit Ablauf
des 31.03.2016 erloschen, weil der Kläger nach Eintritt seiner
vollen Erwerbsminderung aus gesundheitlichen Gründen außerstande
war, seinen Urlaub anzutreten. Der Resturlaub sei ihm für dieses
Jahr vielmehr erhalten geblieben, weil der Arbeitgeber seinen
Mitwirkungsobliegenheiten bis zum 01.12.2014 nicht nachgekommen
sei, obwohl ihm dies möglich gewesen sei.
III.
Außerdem: Parallelentscheidung zur Verjährung von
Urlaubsansprüchen
Neben
der Frage des Verfalls von Urlaubsansprüchen aus Jahren, in denen
der Arbeitnehmer vor Eintritt einer vollen Erwerbsminderung oder
krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit tatsächlich gearbeitet
hat, hat sich das BAG in einer Parallelentscheidung am gleichen
Tag außerdem mit der Frage der Verjährung von Urlaubsansprüchen
befasst, wenn der Arbeitgeber seinen Mitwirkungsobliegenheiten
nicht nachgekommen ist.
In
diesem Fall machte eine Arbeitnehmerin gegenüber ihrem
Arbeitgeber nach Beendigung des mit diesem bestehenden
Arbeitsverhältnisses Ansprüche auf Abgeltung von
Urlaubsansprüchen aus vergangenen Jahren im Umfang von insgesamt
101 Arbeitstagen geltend. Der Arbeitgeber, der für diese Jahre
seinen Mitwirkungsobliegenheiten nicht nachgekommen war, berief
sich auf die Verjährung dieser Urlaubsansprüche, so dass diese
nach seiner Auffassung auch nicht abzugelten sind. Während die
Klage der Arbeitnehmerin erstinstanzlich keinen Erfolg hatte, sah
das in zweiter Instanz mit dem Rechtsstreit befasste LAG
Düsseldorf die Forderung der Arbeitnehmerin in einem Umfang von
76 abzugeltenden Arbeitstagen als begründet an und erachtete
dabei die vonseiten des Arbeitgebers erhobene Einrede der
Verjährung für nicht durchgreifend.
Der
Arbeitgeber legte gegen das Urteil Revision beim BAG ein. Dieses
wendete sich auch bzgl. der Frage nach der Verjährung von
Urlaubsansprüchen für den Fall, dass der Arbeitgeber seinen
(...)
|