Dr.
Alexander Bissels und Dr. Jonas Singraven
Verlängerung
der Überlassungshöchstdauer durch Tarifvertrag und
Rechtsmissbrauch bei dem Abschluss von befristeten
Arbeitsverhältnissen nach einer Übernahme
Das
LAG Niedersachsen hat sich mit zahlreichen für die Praxis
spannenden Fragen in Zusammenhang mit einer (erlaubnispflichtigen)
Arbeitnehmerüberlassung im Konzern (auf Grundlage einer durch
Tarifvertrag verlängerten Überlassungshöchstdauer) und einer
anschließenden Übernahme durch den Kunden, der mit dem
Zeitarbeitnehmer einen „lediglich“ sachgrundlos befristeten
Arbeitsvertrag abgeschlossen hat, befassen müssen. Aufgrund der
nicht erfolgten „Entfristung“ bei dem Kunden klagten
zahlreiche betroffenen Arbeitnehmer auf das Bestehen eines
unbefristeten Arbeitsverhältnisses. Dabei rügten sie u.a., dass
die tarifliche Überlassungshöchstdauer für das mit dem
Personaldienstleister bestehende Arbeitsverhältnis nicht gegolten
habe; die gesetzliche Überlassungshöchstdauer sei überschritten
worden, so dass mit dem Kunden ein (unbefristetes)
Arbeitsverhältnis fingiert worden sei (erster
Begründungsansatz). Zudem sei die vereinbarte Befristung
rechtsmissbräuchlich (zweiter Begründungsansatz).
Das
LAG Niedersachsen hat den Fall differenziert gelöst – und zwar
in Abhängigkeit davon, ob der klagende Arbeitnehmer Mitglied in
der IG Metall war oder nicht. War dies der Fall, konnte der
Arbeitnehmer mit seinem Begehren, ein (unbefristetes)
Arbeitsverhältnis zu dem Kunden festgestellt zu wissen, nicht
durchdringen (vgl. LAG Niedersachen v. 21.04.2022 – 5 Sa 99/21;
weitere Parallelsachen: 5 Sa 372/21, 5 Sa 375/21, 5 Sa 393/21, 5
Sa 395/21, 5 Sa 398/21, 5 Sa 401/21). Inzwischen liegen zur
Verlängerung der Überlassungshöchstdauer durch Tarifvertrag
auch zwei aktuelle Urteile des BAG vor, die für die
Zeitarbeitsbranche ausgesprochen günstig ausgefallen sind (Urt.
v. 14.09.2022 – 4 AZR 26/21, 4 AZR 83/21).
I.
Zusammenfassung der Entscheidung
Ursprünglich
war der Kläger Arbeitnehmer der XY – der Personaldienstleister
GmbH & Co. KG (im Folgenden: „XY KG“). Das seit dem
15.09.2016 bestehende befristete Arbeitsverhältnis wurde durch
mehrere Vertragsverlängerungen bis zum 31.08.2019 fortgesetzt. Im
Rahmen dieses Arbeitsverhältnisses hat die XY KG den Kläger
durchgängig in dem Betrieb der Beklagten (W-AG) in Z im Rahmen
einer Arbeitnehmerüberlassung eingesetzt. Die XY KG und die W-AG
gehören demselben Konzern an.
Der
Arbeitsvertrag des Klägers enthält insbesondere folgende
Regelung:
„Verweisung
auf Tarifrecht/Betriebsvereinbarungen
Auf
das Arbeitsverhältnis finden der Mantel- und
Entgeltrahmentarifvertrag für Zeitarbeit zwischen einerseits der
XY KG und andererseits der IG Metall und der Entgelttarifvertrag
für Zeitarbeit zwischen einerseits der XY KG und andererseits der
IG Metall in ihrer jeweils gültigen Fassung und alle weiteren
zukünftigen Tarifverträge in vollem Umfang Anwendung.
Auf
das Arbeitsverhältnis sind bestehende Betriebsvereinbarungen
anwendbar.“
Die
XY KG, die Beklagte und die IG Metall (Bezirksleitung
Niedersachsen/ Sachsen-Anhalt) schlossen am 05.12.2013 einen
Tarifvertrag über die Vergütung und Einsatzbedingungen von
Zeitarbeitnehmern (nachfolgend: „TV VEZ“), der u.a. Folgendes
vorsieht:
„Der
Einsatz von Zeitarbeitnehmern der XY KG ist auf maximal 36
aufeinanderfolgende Monate befristet. Der Zeitraum eines
vorangegangenen Einsatzes als Zeitarbeitnehmer der XY KG, der Z
GmbH bzw. der W-AG ist anzurechnen, wenn die Beendigung nicht
länger als 6 Monate vor dem Beginn des neuen Einsatzes
zurückliegt.
[…]
Eine
Übernahme in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis bei der W-AG
erfolgt regelmäßig nach 36 Monaten Einsatzdauer.“
Die
Beklagte begründete mit dem Kläger im unmittelbaren Anschluss an
die Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit der XY KG am
01.09.2019 ein Arbeitsverhältnis. Der Arbeitsvertrag der Parteien
enthielt eine Befristung und sah als Ende des
Arbeitsverhältnisses den 31.05.2020 vor. Mit Schreiben vom
12.05.2020 teilte die Beklagte dem Kläger mit, ihm keine
Anschlussbeschäftigung anbieten zu können, und informierte ihn
über die bevorstehende Beendigung des Arbeitsverhältnisses.
Mit
seiner Klage hat der Kläger die Unwirksamkeit der
Befristungsabrede sowie das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses
mit der Beklagten bereits vor dem 01.09.2019 geltend gemacht. Das
ArbG Hannover wies die Klage ab (Urt. v. 14.12.2020 – 2 Ca
130/20). Die hiergegen vom Kläger bei dem LAG Niedersachsen
eingelegte Berufung blieb erfolglos. Das Arbeitsverhältnis habe
– so das LAG Niedersachsen – durch die vereinbarte Befristung
zum 31.05.2020 wirksam sein Ende gefunden. Die Parteien hätten
das Arbeitsverhältnis wirksam gem. § 14 Abs. 2 S. 1 TzBfG
sachgrundlos befristet abgeschlossen; eine Vorbeschäftigung in
Folge der Überschreitung der gesetzlichen
Überlassungshöchstdauer gem. § 1 Abs. 1 AÜG i.V.m. §§ 9 Abs.
1 Nr. 1b, 10 Abs. 1 AÜG liege nicht vor. Auch sei der Abschluss
eines befristeten Arbeitsverhältnisses mit der Beklagten – im
Anschluss an die Eingliederung durch die XY KG – als
Vertragsarbeitgeberin nicht rechtsmissbräuchlich gewesen.
Eine
Überschreitung der gesetzlichen Überlassungshöchstdauer von 18
Monaten gem. § 1 Abs. 1b S. 1 AÜG im Verhältnis zur XY KG habe
nämlich nicht vorgelegen. Es greife die Ausnahmebestimmung nach
§ 1 Abs. 1b S. 3 AÜG, nach der in einem Tarifvertrag von
Tarifvertragsparteien der Einsatzbranche eine von § 1 Abs. 1b S.
1 AÜG abweichende Überlassungshöchstdauer festgelegt werden
könne. Eine derartige Regelung enthalte der TV VEZ, der auf das
Arbeitsverhältnis des Klägers zu der XY KG kraft beidseitiger
Tarifbindung auch Anwendung gefunden habe. Insbesondere sei von
der Gewerkschaftsmitgliedschaft des Klägers zum Zeitpunkt des
Arbeitsverhältnisses mit der XY KG auszugehen. Dies habe die
Beklagte entsprechend ihrer Darlegungslast behauptet; der Kläger
sei dem nicht in einem ausreichenden Maße entgegengetreten, so
dass diese Tatsache gem. § 138 Abs. 3, 4 ZPO als zugestanden
gelte. Soweit der Kläger im Termin zur Kammerverhandlung vom
21.04.2022 erklärt habe, nicht sagen zu können, ob eine
Gewerkschaftsmitgliedschaft seinerzeit vorgelegen habe, bleibe
zunächst unklar, ob damit die Behauptung der Beklagten mit
Nichtwissen bestritten werden sollte. Dies sei jedoch nicht
erheblich. Wenn dieses Vorbringen so zu verstehen sein sollte,
wäre es prozessual unzureichend. Es handele sich um eine
Tatsache, die aufgrund eigener Wahrnehmung und eigenen Wissens
nicht mit Nichtwissen bestritten werden dürfe (vgl. § 138 Abs. 4
ZPO). Selbst wenn von dieser Vorschrift Ausnahmen anerkannt seien,
müssten diese besonders begründet werden („nicht mehr
erinnern“); daran fehle es vorliegend.
Die
hiesige tarifliche Ermächtigung des TV VEZ mit der Erlaubnis,
Zeitarbeitnehmer 36 Monate zu überlassen, sei wirksam. Der EuGH
halte es grundsätzlich für unionsrechtlich zulässig, wenn
EU-Richtlinien durch Tarifverträge umgesetzt würden. Der
Mitgliedsstaat müsse lediglich gewährleisten, dass die in der
Richtlinie enthaltenen Ziele eingehalten würden. Unterstützt
werde diese klare Rechtsauffassung bereits durch den Wortlaut des
Art. 288 Abs. 3 AEUV, nach dem die Richtlinie für die
Mitgliedsstaaten grundsätzlich nur das zu erreichende Ziel
festlege, aber die Wahl der Mittel zu dessen Erreichung den
Mitgliedsstaaten überlassen bleibe. Deswegen werde auch die z.T.
in der Literatur vertretene Auffassung, der nationale Gesetzgeber
sei der Umsetzungspflicht der Zeitarbeitsrichtlinie nicht
nachgekommen, mit dem Argument, ihm obliege es allein, den
unbestimmten und dort enthaltenen Rechtsbegriff
„vorübergehend“ näher zu konkretisieren (so: Ulber, RdA
2018, 51), abgelehnt.
Zutreffend
sei zwar, dass die Gestattung gegenüber den Tarifvertragsparteien
in § 1 Abs. 1b S. 3 AÜG nicht der Begrenzung der
Zeitarbeitsrichtlinie mit ihrem Merkmal „vorübergehend“
zuwiderlaufen dürfe. Diese Problematik werde jedoch durch eine
europarechtskonforme Auslegung sichergestellt. Diese ähnele der
Frage, die die sachgrundlose Befristung von Arbeitsverhältnissen
und die Öffnungsklausel in § 14 Abs. 2 S. 3 TzBfG beträfe. Vor
diesem Hintergrund werde – entsprechend der Rechtsprechung des
BAG (Urt. v. 26.10.2010 – 7 AZR 140/15) – eine dreifache
Überschreitung der durch das AÜG bestimmten
Überlassungshöchstdauer von 18 Monaten, mithin 54 Monate, (...)
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